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Angedacht Palmarum

M-T
Jerusalem wiedersehen und (doch anders) erleben
 
Geistliche Impuls zum Sonntag Palmarum (Palmsonntag) (5. April 2020)
 von Pfarrer Thomas Vogt, Adventskirche Niedervellmar

Ihr Lieben,
 
es ist fast 10 Jahre her gewesen, dass ich das letzte Mal in der Stadt war. In Göttingen. Dort lebte ich immerhin für zwei Jahre. Anfang 20. Damals bin ich das erste Mal von zu Hause ausgezogen. Eine eigene Wohnung, eigene Verantwortung, das neue Umfeld, studieren, 250 km von meiner Heimatstadt Wiesbaden entfernt und doch – gefühlt - eine andere Welt. Als ich 10 Jahre später nach Nordhessen zog, spontan und schnell entschieden, der Kurzbesuch in Göttingen. Nach 10 Jahren. Sehr eigentümliche Gefühle überkamen mich. So viele Erinnerungen, Begebenheiten, Situationen an Orten und Ecken der Stadt. Aber auch Veränderungen. Vieles sofort wiedererkannt, Wohltuendes und Vernichtendes, vieles -zugegebenermaßen - fremd und neu und anders.
 
Es ist nahezu 20 Jahre her, dass er das letzte Mal in Jerusalem war. Jesus war damals gerade 12 Jahre. Jetzt ist er vermutlich etwas über 30 Jahre. Es war eine aufregende Reise damals als 12jähriger und ein noch aufregenderer Aufenthalt, lange ist es her. Viele, tausende von Menschen, die miteinander feierten und von der Freiheit sangen und jetzt wieder singen. Freiheit, das war auch sein Lebensgefühl damals. Der 12jährige Jesus – auf dem Weg zum Erwachsenen - eroberte sich die Stadt. Als er seinen Eltern davonlief - den Schalk im Nacken - und im Tempel die Erwachsenen erstaunt und gebannt seinen Gedanken lauschten. Und das alles zum großen Nationalfest, dem Passahfest, es ist die Klammer von damals und jetzt.
 
Jesus kommt in die Stadt seiner Kindheit zurück. Und es ist - 20 Jahre später - wieder Passafest. Das ist die alte Geschichte des Evangeliums - am heutigen Palmsonntag - vom Einzug Jesu in Jerusalem. Er wird begeistert empfangen. Er ist ein bekannter und tiefsinniger erwachsener Mann geworden. Und viele wollen ihn sehen und kommen zum Stadttor. Wieder ist Passafest. Das verbindet sein Damals und Heute. Und doch sind die Stadt und er selbst anders geworden und das, was er in den kommenden Tagen erleben wird, so fremd und niederschmetternd.
 
Alles ist anders geworden: Aus den anfänglichen Jubelrufen werden vernichtende Töne gegen ihn: Misstrauen, Verleugnung, Einsamkeit und Verrat, Verzweiflung und am Ende der unberechenbare Justizmord, die Kreuzigung, der Tod. All das wird er in den kommenden Tagen erleben. Alles ist anders geworden und fühlt sich so anders an als damals vor 20 Jahren.
 
Alles ist anders geworden, seit gut 20 Tagen. Die Welt scheint für manche einfach wohltuend heruntergefahren und still zu stehen. Gott hat die Notbremse gezogen, denken sie und viele Urlaubsfreudige und Geschäftsreisende kommen endlich zur Ruhe. Für andere sind diese 20 Tage bedrohlich fremd und unaushaltbar. Irgendwo dazwischen stehen wir mit unseren ganz eigenen Erfahrungen vom Leben, mit unserer Lust und unserer Angst bei Veränderungen. So krasse Einschnitte sind nicht jedermanns Sache. Wer auf verlässliche Aussagen setzt, auf Gewissheiten und Erfahrungsschätze baut, der ist in diesen Tagen verraten und verkauft. Wer keinen Computer und kein Handy hat, der fühlt sich abgeschnitten, Eltern von Schülern finden sich im homeschooling wieder und fühlen sich heillos überfordert, Arbeitnehmerinnen fühlen sich dem unsichtbaren Virus gegenüber haltlos ausgeliefert, wirtschaftlich im freien Fall, andere sogar ins Bodenlose fallend. Manche werden plötzlich kreativ, andere noch depressiver als sie es zuvor schon waren.  
 
Zwischen damals und heute ist es für den nach Jerusalem zurückkehrenden Jesus schwer, das Band der Lebenserfahrung zu entdecken. Zwischen den 20 Jahren seit dem letzten Aufenthalt dort könnten die Gegensätze nicht größer sein. Zwischen der gelösten Entdeckerfreude eines Heranwachsenden zur Erfahrung bitteren Ausgeliefertseins. Von der Freiheit damals zur Gefangennahme heute. Und dennoch wird ihm die Erfahrung des 12jährigen helfen, das Bevorstehende durchzustehen.
 
Ältere Menschen, die als Kind den Zweiten Weltkrieg noch erlebten, erzählen mir von Ausgangssperren Ende der 40er Jahre, auch in Niedervellmar. Andere von einer Krankheit, die alles veränderte. Wieder andere von Reisen an Orte, in denen Menschen alles verloren haben. Sie vermögen Verknüpfungen herzustellen.
 
So neu diese Situation um den Corona-Virus auch ist, es gibt in unserem Leben Anknüpfungspunkte: Ausgeschlossen sein, Ungewissheiten ertragen, Distanz aushalten müssen, Unabwendbares hinnehmen müssen. Das alles haben wir schon erlebt. Wir können daran anknüpfen, und Strategien der Bewältigung von damals neu aktivieren. Das muss jeden Tag durchbuchstabiert werden. Und dennoch gibt es Momente in diesen Tagen, in denen sich bewährte Lebenserfahrungen auffrischen lassen und tragfähig werden können.
 
Die Rückkehr an vertraute Orte unseres Lebens, manchmal nach langer Zeit auch, sind für mich das Sinnbild dieses Palmsonntags. Erinnerungen werden lebendig an Vergangenes, Erlebtes und zugleich die Erfahrung: nichts mehr ist, wie es einmal war. Das ist das Sinnbild auch für diese Tage! Wir knüpfen an Erfahrungen an und müssen die Welt und unser Leben neu begreifen. Begreifen auch, dass diese Welt eine andere werden wird!
 
In herzlicher Verbundenheit – um Einsicht und Bewahrung bittend -
 
Thomas Vogt

 
Täglich läuten die Glocken der Adventskirche (zusätzlich) für fünf Minuten um 12.00 Uhr zum Mittagsgebet und um 19.30 Uhr zum Abendgebet
 
Füreinander beten – aneinander denken
 
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